Wirksame Kündigung trotz Fehler bei der Massenentlassungs-
anzeige?

Spannende Entscheidung vom EuGH erwartet

Ein Arbeitgeber muss in Deutschland eine Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit abgeben, wenn er eine größere Zahl von Arbeitnehmern zu kündigen beabsichtigt. Eine unterlassene oder fehlerhafte Anzeige führt in aller Regel zur Unwirksamkeit der Kündigung. So jedenfalls die bisherige Spruchpraxis des BAG seit 2012. Der Generalanwalt beim EuGH stellte den arbeitnehmerschützenden Charakter der Massenentlassungsanzeige mit seinen Schlussanträgen vom 30.03.2023 in der Rechtssache C-134/22 grundlegend in Frage. Nun wird mit Spannung erwartet, ob der EuGH diesen Anträgen folgt. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dass das vom BAG entwickelte Sanktionssystem, nach dem Fehler bei der Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der Kündigung führen, nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes steht, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird. Das BAG hat daher bereits ein Verfahren mit einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige ausgesetzt, um abzuwarten, ob die bisherige Rechtsprechung nebst entsprechender Sanktionierung fortgeführt werden kann.

Bisherige Rechtslage:

Gemäß § 17 KSchG hat der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er

  • in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
  • in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
  • in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer

innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden.

Fehler in der Anzeige führen nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG in den folgenden Fällen zur Unwirksamkeit der Kündigungen. Es ist zwischen der unterbliebenen und der mangelhaften Anzeige zu unterscheiden. Bei einer mangelhaften Anzeige ist zu beachten, dass nicht jeder Fehler in der Anzeige zu deren Unwirksamkeit führt, vielmehr gilt dies nur für die in § 17 Abs. 3 Satz 4 KüSchG aufgeführten „Muss-Angaben“. Folgende „Muss-Angaben“ sind erforderlich:

der Name des Arbeitgebers, der Sitz und die Art des Betriebs, die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Entlassungszeiträume, die Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer

Eine Anzeige, bei der auch nur eine einzige Muss-Angabe fehlt, entfaltet keinerlei Rechtswirkungen. Fehler und Unvollständigkeiten bei den Muss-Angaben führen daher grundsätzlich zur Unwirksamkeit der Anzeige. Unwirksam war die Anzeige auch dann, wenn die Konsultation des Betriebsrates nicht gegenüber der Bundesagentur für Arbeit mitgeteilt wurde, vgl. § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG. 

Das Fehlen der Soll-Angaben des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG hat auf die Wirksamkeit der Anzeige hingegen keine Auswirkungen.

Mögliche Änderung der Rechtslage:

Den Anträgen des Generalanwalts beim EuGH ist zu entnehmen, dass er arbeitnehmerschützende Auswirkungen sowohl im Hinblick auf die Mitteilungspflicht gegenüber der Agentur für Arbeit, was die Einleitung eines Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat betrifft, verneint als auch die Frage, ob sich der in der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vorgesehene Massenentlassungsschutz auf Arbeitnehmer auswirkt. Die Verpflichtungen bestehen nach seiner Ansicht wohl allein gegenüber der Agentur für Arbeit und Arbeitnehmervertretern. Daher sei es auch allein Sache der Behörden und der Arbeitnehmervertreter, diese Rechte und Pflichten zu wahren und durchzusetzen.

Folgt dem der EuGH, so würde das dazu führen, dass die vom BAG in ständiger Rechtsprechung angenommene Sanktion einer Unwirksamkeit von Kündigungen bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes nicht vereinbar, d. h. unionsrechtswidrig wäre.

BAG wartet auf EuGH-Entscheidung zu Rechtsfolgen fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen

Das BAG hat im Verfahren 6 AZR 157/22 das Verfahren ausgesetzt und möchte nun abwarten, ob sich der EuGH der Einschätzung des Generalanwalts anschließt und ob seine Entscheidung mehr Klarheit darüber bringt, ob das dem bisherigen Verständnis des BAG entsprechende Sanktionssystem bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren aufrechterhalten werden kann.

Wenn sich die Pflichten der Arbeitgeber nur auf Behörden erstrecken, beschränken sich Fehler nur auf dieses Verhältnis und haben aller Voraussicht keine Auswirkungen mehr auf die Kündigungen individueller Arbeitnehmer im Massenentlassungsfall. Das BAG müsste seine bisherige Rechtsprechung aufgeben und dürfte Kündigungen wohl nicht mehr für unwirksam erklären.

Was bedeutet das für die Praxis

Entscheidet der EuGH entsprechend, würden die Rechte der Arbeitgeber gestärkt, denn die Anforderungen im Massenentlassungsarbeitsrecht würden spürbar sinken.

Arbeitgeber sollten bis zur Klärung der Rechtslage weiterhin größte Sorgfalt auf Erstellung der Massenentlassungsanzeige und Konsultationsverfahren verwenden. Ein Fehler in diesem Bereich kann die Unwirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigungen zur Folge haben und könnte auch geschlossenen Aufhebungsvereinbarungen nachträglich zu Fall bringen.

Arbeitgeber, die aktuell Massenentlassungen vornehmen müssen, sollten sich aufgrund der dynamischen Entwicklungen in diesem Bereich rechtzeitig anwaltliche Beratung einholen. Unser Team steht Ihnen dabei gern zur Seite.

Ansprechpartner

Nico Hilbert

Rechtsanwalt
Betriebswirt (VWA)