Neuer Richtlinienentwurf zur Produkthaftung – Großer Wurf oder
unkalkulierbares Risiko für Unternehmen?

Die EU-Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG nähert sich dem vierzigsten Jahrestag ihres Bestehens, doch wird sie diesen in der gegenwärtigen Fassung wohl nicht mehr erreichen. Der technologische Fortschritt der vergangenen vierzig Jahre war geprägt von einer unvorstellbaren Rasanz. Während am 25. Juli 1985 wohl nur in einem verschwindend geringen Bruchteil der deutschen Privathaushalte überhaupt ein Computer vorhanden war, gaben zwei Drittel der in einer Umfrage des Branchenverbands bitkom im September 2023 befragten Unternehmen an, künstliche Intelligenz („KI“) für die wichtigste Zukunftstechnologie zu halten. Diesen technologischen Quantensprung hat die Produkthaftungsrichtlinie nahezu unverändert begleitet. Auch die Europäische Union hat die Notwendigkeit erkannt, einen sicheren Rechtsrahmen für Unternehmen zu schaffen, um die Vorteile von KI nutzbar zu machen und gleichzeitig das Sicherheitsbedürfnis der Unionsbürger zu befriedigen. In diesem Kontext hat die Kommission am 29. September 2022 einen Entwurf für eine „neue“ Produkthaftungsrichtlinie veröffentlicht. Der finale Entwurf dieser „neuen“ Produkthaftungsrichtlinie wurde am 24. Januar 2024 durch den Rat bestätigt und soll voraussichtlich noch im März im Europäischen Parlament beraten werden. Höchste Eisenbahn, einen Blick auf die wichtigsten Änderungen zu werfen.

Die wesentlichen Neuerungen im Überblick

Software als Produkt im Sinne der Produkthaftungsrichtlinie

Der seit dem Vormarsch des Computers entbrannte Streit, ob und unter welchen Voraussetzungen Software ein Produkt im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist nach dem gegenwärtigen Stand überholt. Der Produktbegriff soll erweitert werden und künftig ausdrücklich Software sowie auch digitale Bauunterlagen umfassen, also etwa solche Dateien, die einem 3D Drucker als „Vorlage“ dienen. Somit fallen nun insbesondere auch Smartphone-Apps in den Anwendungsbereich der Produkthaftungsrichtlinie.

Erweiterung des für Produktfehler haftbaren Wirtschaftsakteure

Bislang haftet gegenüber dem Geschädigten zunächst der Hersteller des fehlerhaften Produkts. Neben der Haftung des Produktherstellers ist gegenwärtig nur eine Haftung des sog. „Quasi-Herstellers“, also desjenigen, der sich durch das Anbringen seines Namens, seiner Marke oder eines anderen unterscheidungskräftigen Kennzeichens als Hersteller ausgibt sowie des Produkt-Importeurs in den Europäischen Wirtschaftsraum vorgesehen. Die verschuldensunabhängige Produkthaftung soll nun unter weiteren Voraussetzungen auch auf Bevollmächtigte des Herstellers, auf sog. „Fulfilment-Dienstleister“ (jede natürliche oder juristische Person, die im Rahmen einer Geschäftstätigkeit mindestens zwei der folgenden Dienstleistungen anbietet: Lagerhaltung, Verpackung, Adressierung und Versand eines Produkts, an dem sie kein Eigentumsrecht hat) und unter bestimmten Umständen sogar auf Einzelhändler erstreckt werden.

Offenlegung von Beweismitteln

Eine der gravierendsten Änderungen der Produkthaftungsrichtlinie stellt die – sonst eher in angelsächsischen bzw. anglo-amerikanischen Rechtsordnungen übliche – Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln dar. Eine solche Verpflichtung kann durch das Gericht in einem streitigen Verfahren angeordnet werden, sofern der Kläger die Plausibilität des Schadenersatzanspruchs ausreichend darlegen kann. Zwar ist nach dem finalen Richtlinienentwurf eine Offenlegung auf das erforderliche und verhältnismäßige Maß zu beschränken und hierbei insbesondere das Interesse an einem Geschäftsgeheimnisschutz zu wahren, jedoch bleibt abzuwarten, wie diese weitreichende Verpflichtung in nationales Recht überführt und durch die Gerichte der Mitgliedstaaten ausgelegt werden wird.

Beweiserleichterungen für Geschädigte

In direkter Verbindung zur Offenlegungsverpflichtung von Beweismitteln steht eine Beweiserleichterung von Geschädigten. Zwar hält auch der Richtlinienentwurf am Grundsatz fest, dass ein Anspruchsteller sowohl die Fehlerhaftigkeit des Produkts wie auch den eingetretenen Schaden sowie die Kausalverknüpfung zwischen Produktfehler und Schaden darlegen muss, jedoch sieht der Entwurf Einschränkungen hieran vor. Kommt der verklagte Hersteller in einem gerichtlichen Verfahren seinen Offenlegungspflichten von Beweismitteln nicht nach, so wird die Fehlerhaftigkeit des Produkts widerleglich vermutet. Gelangt das Gericht zur Auffassung, dass die Beweisführung für den Kläger aufgrund der technischen oder wissenschaftlichen Komplexität übermäßig schwierig ist, so wird die Fehlerhaftigkeit des Produkts oder die Ursächlichkeit des Produktfehlers für den eingetretenen Schaden widerleglich vermutet, wenn der Kläger darlegen kann, dass das Produkt wahrscheinlich fehlerhaft war bzw. die Fehlerhaftigkeit den Schaden wahrscheinlich verursacht hat und das Produkt zum Schaden beigetragen hat.

Fazit

Ob der Richtlinienentwurf einer neuen Produkthaftungsrichtlinie ein großer Wurf wird oder für Unternehmen unkalkulierbare Risiken mit sich bringt, kann zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht abschließend beantwortet werden. Jedenfalls zeigt sich deutlich, dass Unternehmen bereits zum jetzigen Zeitpunkt die notwendigen Weichenstellungen vornehmen müssen, um von einem nationalen Umsetzungsakt nicht kalt erwischt zu werden. Auch wenn die Änderungen teils weitreichend sind, sollten die Auswirkungen auf Unternehmen durch entsprechende Maßnahmen handhabbar sein. Hier sind insbesondere eine generelle Risikoabschätzung und die Etablierung von erforderlichen Dokumentationsroutinen zu nennen. Bei der Entwicklung von Software und Produkten, die im weitesten Sinne mit KI in Verbindung stehen, empfiehlt sich darüber hinaus eine Anpassung der Entwicklungsprozesse, so dass mögliche Produkthaftungsrisiken bereits in der Entwicklungsphase bedarfsgerecht adressiert, dokumentiert und somit minimiert werden können. THORWART steht Ihnen auch in diesem Kontext mit einem breit aufgestellten Experten-Team zur Seite, das beginnend bei der Produktkonzeption bis hin zum streitigen Verfahren im gesamten Produktzyklus beratend zur Seite steht, um auch künftig Risiken für Ihr Unternehmen minimieren und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit Ihres Unternehmens maximieren zu können.

Ansprechpartner

Alexander Dietz

Rechtsanwalt
Bachelor of Engineering