Paradigmenwechsel
beim Bundes-
arbeitsgericht bei
der Beurteilung
von Fehlern im
Massenentlassungs-
anzeigeverfahren?

Besondere Aufmerksamkeit erlangte das  in § 17 Kündigungsschutzgesetz (nachfolgend KSchG) geregelte Massenentlassungsanzeigeverfahren, als in den Medien von dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (nachfolgend BAG) vom 27.02.2020- 8 AZR 215/19 berichtet wurde, mit dem die gegenüber dem Cockpit-Personal von Air Berlin erklärten Kündigungen aufgrund einer gegenüber einer nicht zuständigen Agentur für Arbeit erklärten Massenentlassungsanzeige, für rechtsunwirksam erklärt wurden.

 

Nach Eingang weiterer ähnlich gelagerter Verfahren,  erklärte das BAG in seiner Pressemitteilung 23/23 vom 11.05.2023, das derzeit bestehende Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren überprüfen zu wollen, da dieses möglicherweise unverhältnismäßig sei und nicht im Einklang mit der Systematik des unionsrechtlich begründeten Massenentlassungsschutzes aus der Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG (nachfolgend MERL) stehen könnte. Der Sechste Senat des BAG hat daher am 15.12.2023 die noch anhängigen Verfahren ausgesetzt, und angekündigt, seine bisherige Rechtsprechung aufzugeben, mit der Folge, dass ein Verstoß gegen die entscheidende Norm des § 17 Abs. 1 und 3 KSchG nicht mehr allein aus diesem Grund zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen würde. Wegen der dadurch entstehenden Divergenz hat der Sechste Senat den Zweiten Senat gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG angerufen, ob er an seiner, der ursprünglich auch vom Sechsten Senat vertretenen Rechtsauffassung, festhält. Wäre dies der Fall, hätte der Große Senat des BAG zu entscheiden. Hält jedoch der Zweite Senat seine Rechtsprechung nicht aufrecht und schließt sich der neuen Rechtsanasicht des Sechsten Senat an, würden Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren allein nicht mehr zwangsläufig zur Unwirksamkeit einer vom Arbeitgeber erklärten Kündigung führen.

Nachfolgend soll daher der derzeitige Stand der Rechtsprechung unter Einbeziehung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (nachfolgend EuGH) vom 13.07.2023 erörtert werden.

1.       Die bisherige Rechtsprechung des BAG

Wie in dem eingangs geschilderten Fall, führt nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Ziffer 2 und 3 KSchG gemäß § 134 BGB zur Unwirksamkeit aller erklärten massenentlassungsanzeigepflichtigen Kündigungen, da die vorerwähnten Bestimmungen des KSchG als Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB nach Auffassung des BAG einzuordnen sind. Mit den §§ 17 ff KSchG setzte der deutsche Gesetzgeber die europäische Massenentlassungs-Richtlinie (MERL) in nationales Recht um. Da weder die MERL noch das nationale Recht eine Sanktion für den Fall einer unwirksamen Massenentlassungsanzeige vorsehen, vertrat das BAG unter Bezugnahme auf die Entscheidung des EuGH vom 08.06.1994 die Auffassung, dass die Wahl einer Sanktion dem Mitgliedstaat freistehe. Der unionsrechtliche Grundsatz des „effet utile“ gebiete es, den Normen des Europäischen Gemeinschaftsrecht auf nationaler Ebene größtmögliche praktische Wirkungskraft zu verleihen und diene dem Zweck der MERL.

2.       Der Anlass zur Überprüfung des bestehenden Sanktionssystems – Urteil des EuGH vom 13.07.2023 (Az. C-134/22)

Aufgrund mehrerer, vor dem BAG anhängiger Verfahren hat der Sechste Senat mit Beschluss vom 27.01.2022 im Verfahren 6 AZR 155/21 dem EuGH die Frage zur Beantwortung vorgelegt, welchem Zweck die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabschnitt 2 der MERL dient, deren Umsetzung § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG bezweckt. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 13.07.2023 die Frage dahingehend beantwortet, dass die vorerwähnte Übermittlungspflicht nicht bezweckt, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Diese Rechtsprechung des EuGH hat zur Folge, dass entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BAG, § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht mehr als eine den Arbeitnehmerschutz dienende Vorschrift eingeordnet werden kann. Folglich kann auch § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht mehr als Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB betrachtet werden. Die bisherige Rechtsprechung des BAG kann daher mit dieser Begründung nicht mehr aufrechterhalten werden.

3.       Ergebnis

Das BAG hat mit seiner Ankündigung, das bestehende Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsverfahren überprüfen zu wollen, den richtigen Weg eingeschlagen. Letztlich hat das Urteil des EuGH vom 13.07.2023 (Az. C-134/22) bewirkt, beim Sechsten Senat des BAG einen Paradigmenwechsel bei der rechtlichen Einordnung des § 17 Abs. 3 KSchG herbeizuführen. Die weitere Entwicklung hängt nunmehr von der Beantwortung der Anfrage des Sechsten Senats durch den Zweiten Senat ab. Gegebenenfalls ist noch eine Entscheidung des Großen Senats abzuwarten. Falls sich jedoch die Auffassung durchsetzt, dass aufgrund des Urteils des EuGH §17 Abs. 3 KSchG nicht mehr als Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB gewertet werden kann, können Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren nicht mehr allein zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen.

Ansprechpartner

Dieter Weinlich

Rechtsanwalt
Bürgermeister a.D.